· 

Das Genre

Du hast dich also dazu entschlossen, deinen Roman selbst zu lektorieren. Hervorragend! Dann stürzen wir uns gemeinsam in die Arbeit.

 

Bevor wir beginnen: Der Großteil der Erkenntnisse beruht auf intensiver Befassung unterschiedlicher Plotstrukturen, Schreibtipps und Herangehensweisen verschiedener Lektoren und Autoren. Ein dominanter Teil, insbesondere was die Überprüfung des Gesamtromans angeht, geht auf Shawn Coyne und seine Theorie des Story Grid zurück (www.storygrid.com). Einen Besuch auf seiner Seite kann ich nur empfehlen, da viele Themen dort vertieft werden.

Ein Genre festlegen

Der allererste Schritt beim Selbstlektorat, falls noch nicht geschehen, ist, sich auf ein Genre festzulegen. Aber Achtung, wir sprechen hier von inhaltlichen Genres, nicht von Zielgruppen (Young Adult) oder Genres, die dein Buch während und nach der Veröffentlichung begleiten werden. Es geht um Genres, die dir helfen, den Inhalt deines Buches zu erfassen und im weiteren Verlauf zu überarbeiten.

 

Shawn Coyne hat insgesamt 12 Genres herausgearbeitet, die sich in neun externe und drei interne Genres aufteilen.

Die externen Genres

Das externe Genre ist das Genre, das die äußere Handlung deines Romans umreißt. Viele der Bezeichnungen sind uns bereits bekannt und in vielen Fällen kann die Entscheidung schnell getroffen werden. Vor allem für Bücher der Phantastik kann eine Zuordnung allerdings schwierig sein, weil wir das Fantasy-Genre nicht in der Liste finden. Das liegt daran, dass „Fantasy“ nicht die Handlung der Geschichte beschreibt, als vielmehr das Setting. Das Setting aber stellt keine Anforderungen an den Inhalt des Romans – und da wir in diesem ersten Schritt des Selbstlektorats genau hierauf schauen, ist es essentiell, dass wir unseren Roman einem Genre zuordnen, der den Inhalt der Geschichte beschreibt.

 

Was sind nun die neun externen Genres?

  • Action (Leben vs. Tod): Wie kann ich eine Übermacht daran hindern, mich selbst oder andere unschuldige Opfer zu töten?
  • Krieg (Ehre vs. Schande): Wie kann ich oder meine soziale Gruppe überleben ohne die Menschlichkeit zu verlieren?
  • Horror (Leben vs. Verdammnis): Wie kann ich überleben, wenn ich Opfer meiner größten Angst werde?
  • Krimi (Gerechtigkeit vs. Ungerechtigkeit): Wie kann ich Verbrecher aufspüren und bestrafen?
  • Thriller (Leben vs. Verdammnis): Ich überlebe, wenn ich meine Stärke entdecke, andernfalls siegen Tod und Verdammnis.
  • Western/Eastern (Freiheit vs. Unterwerfung): Ist das selbstständige Individuum eine Gefahr für die Gesellschaft oder schützt es die Machtlosen vor der Tyrannei?
  • Liebesgeschichte (Liebe vs. Hass): Wie kann ich meine Liebe gewinnen oder eine Beziehung erhalten?
  • Leistung (Respekt vs. Schande): Tue ich trotz aller Widerstände alles, um meine Begabung zum Ausdruck zu bringen?
  • Gesellschaft (Macht vs. Machtlosigkeit): Was mache ich im Angesicht der Tyrannei – unterstütze ich sie oder wehre ich mich?

(Übernommen von Story Grid, eigene Übersetzung)

Die internen Genres

Das interne Genre befindet sich auf der Ebene des Charakterkonfliktes, es spielt im Inneren des Protagonisten. Dieser Konflikt findet nicht auf der Handlungsebene statt, sondern ist ein psychologischer Nebenplot, der das Hadern und innere Leiden der Hauptfigur zum Thema hat. Das interne Genre gibt dem Roman Tiefe und verleiht ihm psychologische Spannung. Der Protagonist wird dreidimensionaler.

 

Wichtig am internen Genre ist, dass es mit der Haupthandlung verknüpft sein muss. Die Charakterentwicklung des Protagonisten findet nicht neben dem Hauptplot statt, sondern spielt in die Handlung hinein, bedingt sie und wird davon bedingt. Handlungsplot und Charakterkonflikt bzw. externes und internes Genre gehen Hand in Hand.

 

Shawn Coyne hat drei verschiedene interne Genres identifiziert:

  • Status (von Scheitern zu Erfolg): Werde ich dem gesellschaftlichen Anspruch von Erfolg entsprechen oder finde ich meinen eigenen Weg, meine eigene Interpretation von Erfolg?
  • Moral (Egoismus zu Selbstlosigkeit): Benutze ich meine Stärken, um selbstlos oder egoistisch zu handeln?
  • Weltsicht (Unwissenheit zu Weisheit): Wie kann ich ein Problem lösen, dessen Umfang ich noch nicht vollends begreife?

(Übernommen von Story Grid, eigene Übersetzung)

 

Bei der Wahl des Genres ist keine Bewertung vorgesehen. Deine Geschichte kann auch negativ enden, indem dein Protagonist letztendlich seinen Fehlern erliegt und dadurch scheitert.

 

Indem die drei internen Genres mit den neun externen Genres kombiniert werden, ergeben sich eine Vielzahl verschiedener Möglichkeiten, deinen Roman aufzuziehen.

Moment mal ...

… eine Vielzahl verschiedener Möglichkeiten? Das sind ja gerade mal 27 Varianten! Was soll denn das für eine Vorstellung von Geschichten sein, wenn letztendlich jeder nur schablonenartig das wiederkäut, was Hunderte, Tausende Male vorher geschrieben und erzählt wurde?

 

Der Mensch erzählt sich Geschichten seit Tausenden von Jahren. Trotz unterschiedlicher Kulturen, unterschiedlicher Epochen, unterschiedlicher geographischer Zuordnung folgen diese Geschichten im Allgemeinen demselben Schema. Wir sind daran gewöhnt, dass Geschichten einen Höhepunkt haben müssen – das stellt uns zufrieden.

(Es gibt gerade in der heutigen Zeit auch experimentelle Geschichten – allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Der normale Leser bevorzugt es, innerhalb seiner Komfortzone unterhalten zu werden.)

 

Diese Schemas, diese Strukturen sind das Skelett deiner Geschichte. Es ist einfacher, das anzuerkennen, anstatt sich dagegen in der festen Überzeugung zu wehren, etwas Einzigartiges, noch nie Dagewesenes geschrieben zu haben. (Wirklich? Dann wirst du Schwierigkeiten haben, eine größere Leserschaft zu finden.)

 

Wir sind auf der Welt über sieben Milliarden Menschen. Unser Körper, unser Skelett folgt grundsätzlich immer demselben Aufbau. Und dennoch gibt es sieben Milliarden unterschiedliche Menschen. Sieben Milliarden unterschiedliche Gesichter, unterschiedliche persönliche Geschichten, unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen, Sehnsüchte. Es gibt unzählige unterschiedliche Menschen, die auf ihre Art schön sind und ebenso viele Menschen, die uns abstoßen.

 

Nur weil das Skelett aller unserer Geschichten in den Grundzügen dasselbe ist, sind doch alle Geschichten anders. Das Gesicht und der Körper (externes Genre) variieren ebenso stark voneinander wie der Charakter und die Sehnsüchte (internes Genre).

 

Sich an Strukturen und Grundbausteine der Erzählkunst zu halten, schränkt uns in unserer Freiheit also nicht ein. Stattdessen sind es Helfer, die unserer Kreativität einen ordentlichen Schubs geben und uns helfen, Probleme schnell aufzuspüren und zu beheben.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0